„Und die selbst gebauten Fallen
Und die halb verheilten Wunden,
All die imaginären Grenzen
Und die ausgelöschten Stunden“
Muff Potter
Ich bin herausgeputzt wie eine Weihnachtsschlampe. Roter Lippenstift, Locken auf die widerspenstig glatten Haare, Brüste Körbchen B auf DD gepusht via Maximizer in diesem schummrigen Schuppen in der ostdeutschen Provinz um den Mann meines Lebens kennenzulernen. Was läuft falsch in meinem (vielleicht zu minimal) feministisch denkenden Hirn? Aber trotz unterdurchschnittlicher Ästhetik des Herrn gebe ich mein Bestes und reduziere den Menschen auf sein Fortpflanzungsorgan. Ich will keine/-n Nachkommen/kommerin. Ich will verdammt nochmal Sex. Die ganze Kneipe fiebert mit, ob da noch was geht oder auch nicht. Aber das wird wohl nix, habe ich entschieden.
Dann steht ein anderer vor mir.
Ich bohre in Wunden. Warum er seine Seele verkauft hat. An die Bundeswehr. Was die scheiß Deutschen im scheiß Kosovo verloren haben. Die scheiß Nato sei schuld, sagt er. Er wolle sich nur um seine Mutter sorgen. Die Bundeswehr gebe schließlich Kohle. Viel Kohle. Asche. Das No Future sei in dieser ostdeutschen Kleinstadt zu groß. Scheiß Kohle, scheiß Asche, Sein Kamerad wurde am Arm getroffen. Währenddessen stehen in der ersten Reihe Kinder, die ihm zu gern die Kehle durchschneiden würden. Aber es sind doch Kinder in der ersten Reihe. Kinder! Und Mütter. Und Alte. Deshalb zögert er zu schießen. Deshalb kann er nicht schießen.
Ich denke an Demos, an die Kinder und die Mütter und an die Mütter der Mütter in der ersten Reihe, an S21, an unsere Taktik, an unsere Solidarität, unseren Willen, unser Ziel. Und wie absurd das wäre, würden die Polizisten scharfe Munition verwenden. Wie absurd das sei, wären dies keine Wasserwerfer, sondern AK47. Ich kenne ihn nicht, wie er vorher war, bevor er im Kosovo diente. Aber jetzt spricht er wie ein „Eichhörnchen auf LSD“.
So würde ich es in meinem Niedlichkeitsmodus ausdrücken. Aber dieser Mann ist ein Irrer. Er ist geschädigt von dem Krieg, in dem er nichts zu suchen hat. Ich bohre weiter, weil ich neugierig bin, und frage nach Serben und Albanern und auf wessen Seite wir, die Deutschen, stehen würden, denn ich weiß es nicht. Er muss überlegen, und ich will keine deutsche Weihnachtsschlampe mit fake doppel D-Brüsten mehr sein.
Diesen Monat wären wieder zwei Soldaten gefallen. Nie war es realer als jetzt. Er spricht davon, wie er in Frankfurt am Flughafen von Pazifisten bespuckt wurde, weil er Soldat ist. Und ich denke daran, wie ich jeden anderen auch bespuckt hätte, weil er ein scheiß Soldat ist.
Denn man wird einfach nicht Soldat. Nein das wird man nicht, man verpflichtet sich nicht, wird auch kein Polizist, man wird kein Befehlsempfänger, wenn man klar denken kann. Aber ich würde auch jeder Zeit meine Seele verkaufen, um meiner Mutter zu helfen. Selbst wenn ich bluten müsste. Auch wenn ich unter der Fahne eines angeblich väterlichen Landes bluten müsste, wäre es mir das wert.
Er spricht davon wie schlimm es ist, denn die deutsche Öffentlichkeit wolle keinen Krieg. Aber das hier wäre nichts anderes. Wir würden in den Medien gerade mal ein einziges Prozent der Realität im Südosten vermittelt bekommen.
Okay, „drei Soldaten im Afghanistan gefallen, Jopi Heesters wird bald 108 Jahre alt“, viel Marmelade im Schuh, denn Happy Birthday to you. Sie sind „gefallen“ sagen die „Nachrichten“ – sie sagen nicht „sie sind verdammt nochmal verblutet, ihre scheiß Körperflüssigkeit ist sinnlos in der verfluchten Erde versickert wie die von armen Schweinen in Schlachthäusern, emotionslos und kalt, während sie an ihre Mütter dachten, während sie an ihre Liebe in der Heimat dachten, während sie ein letztes Gebet schickten, während sie vielleicht bereuten, während ihre verdammten Seelen und Körper bluteten, als die Herzen ihrer Freunde zersplitterten, weil sie einen geliebten Menschen verloren und nach Sätzen suchten um das Geschehene in Worte zu fassen.“ Das sagen sie nicht.
Aber das verstehen wir nicht. Weil wir viel zu wenig wissen. Weil wir mit Jopi den 108. Geburtstag feiern.
Er starrt auf meine Brüste, entschuldigt sich und sagt, dass er solche vier Monate lang nur auf seinem Computer-Monitor gesehen habe und nicht in 3D. Ich mache mich nun nackt und ziehe mich mental aus, sage ihm, dass ich Medienkommunikation studiere und schon seit langer Zeit für verschiedene Magazine schreibe und seine Realität sehr bedenkenswert und interessant finde.
Diese Tatsache kann ich nicht sensibler formulieren.
Er sagt: „Ich war nicht freiwillig dort“.
Mein Herz zersplittert und ich muss weinen.